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«Das Modèle Bern macht Schule»

Floride Ajvazi
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Alexander Ott
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Die Stadt Bern ist Pionierin in der Bekämpfung von Zwangsheirat und Zwangsehe. Den Grundstein dafür legte ein parlamentarischer Vorstoss von Rania Bahnan Büechi: «Weniger Zwangsehen in der Stadt Bern» forderte das Postulat. Die Stadt Bern erarbeitete sogleich Massnahmen, die sie nun seit über zehn Jahren erfolgreich umsetzt. Wie das funktioniert, erklären Floride Ajvazi, Projektleiterin im Kompetenzzentrum Integration, und Alexander Ott, Co-Leiter Polizeiinspektorat und Amtsleiter Fremdenpolizei.

Eine Frau und ein Mann putzen sich voneinander abgewendet die Zähne
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Was sind Zwangsheiraten und wer ist betroffen?

Eine Heirat ist in den meisten Fällen ein freudiges Ereignis: Zwei Menschen schliessen einen Bund, der auf Liebe und vor allem auf freiem Willen beruht. Bei Zwangsheiraten hingegen geht mindestens eine oder einer der Vermählten die Ehe unter Zwang ein. Das heisst, dass sie oder er nicht «nein» sagen kann zur Person, welche die Familie als Partner oder Partnerin vorschlägt. Es gibt viele Formen von Zwang. «Liebe, Verlobung, Heirat, Scheidung – darfst du nicht frei entscheiden?», steht deshalb auf dem Informationsflyer  des Kompetenzzentrums Integration (KI) der Stadt Bern. Für Floride Ajvazi, Projektleiterin Zwangsheirat im KI, beginnt es subtil: «Indem zum Beispiel Eltern ihrer Tochter oder ihrem Sohn bestimmte Kleider und den Kontakt mit anderen Jugendlichen verbieten, können sie sie daran hindern wollen, sich zu verlieben und damit ihre Entscheidungsfreiheit einschränken.»

Dieser Zwang entsteht, weil die Betroffenen von Personen aus ihrem Umfeld, meistens aus der Familie, unter Druck gesetzt werden. Der Druck kann ganz unterschiedliche Formen annehmen: physische und sexuelle Gewalt, Drohung, Einsperren, Entführen, aber auch emotionale Erpressung, Einschränkung des Bewegungsspielraumes oder kontrollierende Behandlung. Setzen sich Betroffene zur Wehr, droht ihnen soziale Ächtung. In ganz seltenen Fällen kann es bis hin zu Mord kommen. 1997 sorgte ein Mordfall in der Region für Schlagzeilen: Türkische Eltern wollten ihre Tochter zwangsverheiraten. Als sich die Tochter wehrte, tötete ihr Vater sie. «Da war klar: Wir mussten uns des Themas Zwangsheirat und Zwangsehe systematisch und professionell annehmen», sagt Alexander Ott, Co-Leiter des Polizeiinspektorats und Leiter der Fremdenpolizei der Stadt Bern.

4 von 5 Fällen betreffen Frauen

Nicht alle Fälle enden so dramatisch. Das Ausmass von Zwangsheiraten ist dennoch gross. Eine Bundesstudie von 2012 geht von 700 Fällen pro Jahr aus. Gemäss der Statistik der Fachstelle Zwangsheirat werden schweizweit 82 Prozent der Fälle von Frauen und 18 Prozent von Männern gemeldet. Floride Ajvazi geht von einer hohen Dunkelziffer bei Männern aus, da diese sich schwerer tun, um Hilfe zu bitten. «Für eine Ehe braucht es zwar immer zwei, folglich sind Frauen und Männer betroffen», sagt sie, «aber für Männer ist es einfacher, sich ihre Freiheiten trotz einer Zwangsheirat zu bewahren.»

90 Prozent aller gemeldeten Fälle von Zwangsheirat haben einen Auslandbezug, meist nach Sri Lanka, Syrien, Afghanistan, Eritrea, Somalia, in die Türkei oder auf den Balkan. Die Auflistung der Länder und Regionen ist allerdings nicht abschliessend. Zudem ist eine solche Zuteilung nach Herkunftsländern nicht einfach, da viele Betroffene in der Schweiz geboren sind. Vier von fünf Betroffenen haben Eltern oder Grosseltern, die in die Schweiz migrierten. Die Jugendlichen selbst sind hier aufgewachsen. Sie sind beim Thema Liebe und Heirat deshalb oftmals mit gegensätzlichen Erwartungen konfrontiert: Die Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft kollidieren mit denen der Herkunftsgemeinschaft. Die Ursachen für Zwangsheiraten sind komplex. «Es sind kulturelle Gründe und Traditionen, die zu Zwangsheirat führen», erklärt Polizeiinspektor Alexander Ott, «nicht in erster Linie religiöse». Es besteht eine komplexe Wechselwirkung zwischen Traditionen und patriarchalen Strukturen, die Zwangsheiraten und Zwangsehen verursachen.

Hinzu kommen die Überbewertung der Familie und die Vorstellung, dass die Entfaltung einzelner Familienmitglieder dem Willen des Familienverbunds unterzuordnen sei. Zwangsverlobungen und Zwangsehen werden von der Familie schon mal als Disziplinierungsmassnahme benutzt: Erfahren beispielsweise Eltern von der Homosexualität ihres Kindes, meinen sie, dies mit einer gegengeschlechtlichen Heirat «korrigieren» zu können.  Und auch die klare Definition der Geschlechterrollen von Frauen und Männern spielen eine Rolle. In vielen Gesellschaften wird die Sexualität unverheirateter Frauen streng kontrolliert. Das Verbot vor- und ausserehelicher Beziehungen erhöht damit den Druck einer möglichst frühen Heirat und kann zu Zwangsheiraten führen. Nicht selten spielen auch aufenthaltsrechtliche Gründe eine Rolle: Personen, die mit einem Partner oder einer Partnerin aus einem Drittstaat leben wollen, sehen sich wegen der rechtlichen Lage gezwungen, rasch zu heiraten. Sie haben nicht die Zeit, sich kennen zu lernen, weil die ausländische Person keine Aufenthaltsbewilligung besitzt. In solchen Fällen wählen Eltern manchmal einen Ehepartner oder eine Ehepartnerin für ihr ihre Tochter oder ihren Sohn. Wird ein «nein» zu einem Vorschlag, den die Familie macht, nicht akzeptiert, wird hier eine Zwangsehe geschlossen.

Zwangsheirat als Straftatbestand und das Modèle Bern

Zwangsheirat wurde 2013 ein eigener Straftatbestand, die Stadt Bern wurde allerdings lange vor dem neuen Gesetz und bevor der Bund sein Programm zur Bekämpfung von Zwangsheiraten und Zwangsehen startete, aktiv. Alexander Ott erinnert sich: «Wir mussten feststellen, dass die involvierten Behörden- und Beratungsstellen nicht oder schlecht zusammenarbeiteten und dies für die Betroffenen nicht hilfreich und zugleich belastend war.»

2009 wurde ein erster Runder Tisch zu Zwangsheirat und Zwangsehe organisiert. Polizei, Migrations- und Fremdenpolizeibehörden, Schutzeinrichtungen, Opferhilfe, Beratungs- und Gleichstellungsstellen, Staatsanwaltschaft und Zivilstandsamt nehmen seither jedes Jahr daran teil.

Die Mitglieder des Runden Tischs haben ein opferzentriertes Verständnis und Vorgehen in Verdachtsfällen entwickelt. Das heisst: Ein Fall soll so abgewickelt werden, dass die beteiligten Behörden und NGOs optimal zusammenarbeiten, keine Lücken entstehen und die betroffene Person ihre Geschichte nicht mehrfach erzählen muss, da das retraumatisierend wirken kann. Das Modèle Bern war geboren. Es ist das Vorgehen in Einzelfällen, in welche die Polizei involviert ist. In den meisten Fällen wählen die Betroffenen nach wie vor nicht juristische Lösungsansätze. Dort spielt das soziale Umfeld der Betroffenen eine wichtige Rolle.

Aus diesem Grund hat sich die Stadt Bern sowohl im Aktionsplan Gleichstellung 2009-2012 als auch im Aktionsplan Gleichstellung 2015-2018 zu einer aktiven Rolle in der Information, Prävention und Vernetzung zum Thema Zwangsheirat und Zwangsehe verpflichtet. Drehscheibe dafür ist das KI. Floride Ajvazi organisiert den Runden Tisch. Sie findet: «Der Runde Tisch entspricht einem Bedürfnis und ist eine Erfolgsgeschichte. Es kommen jeweils über 30 Personen zusammen. Mit dem Runden Tisch wurde früh der Grundstein dafür gelegt, dass diese Zusammenarbeit optimal funktioniert und stetig Lücken in der Bekämpfung von Zwangsheiraten und Zwangsehen geschlossen werden können.»

Prävention über Vertrauenspersonen

Das KI hat Informationsmaterialien gestaltet. Verteilt werden sie – insbesondere vor den Sommerferien – an Betroffene und Personen, bei welchen ein erhöhtes Risiko vermutet wird, sowie an deren Freund*innen, Arbeitskolleg*innen, Lehrer*innen, Schulsozialarbeiter*innen oder Berufsbildner*innen. Sie alle sind potenzielle Vertrauenspersonen und müssen wissen, was zu tun ist, falls sich jemand mit dem Verdacht, zwangsverheiratet zu werden, an sie wendet.

In den meisten Fällen holen sich die Betroffenen Hilfe und Unterstützung in ihrem Umfeld, lassen sich beraten und leiten aus eigener Kraft die notwendigen Schritte ein. «Es braucht Mut, sich gegen die eigene Familie aufzulehnen», findet Floride Ajvazi, und betont die Wichtigkeit dieses Schritts in Richtung Selbstbestimmung und Autonomie.

Hochsaison für Zwangsheirat ist die Sommerferienzeit. Dann startet das KI jeweils eine Informationsoffensive. Seit 2017 können Personen, die befürchten, sie könnten während der Ferien im Ausland zwangsverheiratet werden, auf der Webseite der Fachstelle Zwangsheirat eine eidesstattliche Erklärung  herunterladen, ausfüllen und hinterlegen. Darauf wird später zurückgegriffen, sollte der Fall eintreten, den sie befürchten.

Ein Fall pro Woche in Bern

Verdachtsfälle werden in der Regel der nationalen Fachstelle Zwangsheirat verlinken auf zwangsheirat.ch gemeldet, die sie an die Behörden vor Ort weiterleitet. In Bern wird jeder Fall auf einer Gefahrenskala von 0 bis 10 eingestuft und entsprechend werden die geeigneten Massnahmen eingeleitet.

Die gravierendsten Fälle bearbeiten das Polizeiinspektorat und die Fremdenpolizei. Etwa einmal pro Woche werden Alexander Ott und seine drei auf Zwangsheirat spezialisierten Mitarbeitenden aktiv. Die polizeilichen Massnahmen können eine Unterbringung im Frauenhaus oder in einer Schutzwohnung, ein Orts- oder Namenswechsel oder auch weitergehende Massnahmen sein.

Die hohe Fallfrequenz in der Stadt Bern wertet der Berner Co-Polizeiinspektor als Erfolg: «Dank guter Information und Aufklärung wissen die Betroffenen, wo sie sich melden können und Hilfe erhalten». Inzwischen geben die Beteiligten des Berner Runden Tischs ihr Know-how an Gemeindevertreter*innen im Kanton und auch darüber hinaus weiter. 2018 hat zum ersten Mal ein Runder Tisch des Kantons Bern stattgefunden. Und es soll weitere Runde Tische nach Berner Vorbild in anderen Kantonen und Städten geben, wenn es nach der nationalen Fachstelle Zwangsheirat geht. Das Modèle Bern soll Schule machen.

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