Roland Reichen

Roland Reichen (*1974) hat drei Romane geschrieben, die in stark dialektgeprägtem Deutsch von Armut, Krankheit und Sucht erzählen: «aufgrochsen» (2006), «Sundergrund» (2014) und «Auf der Strecki» (2020). 2019 veröffentlichte er zusammen mit seinem Bruder Peter und dem Fotografen Jonathan Liechti den Band «Druffä. Aus dem Leben eines Berner Drogensüchtigen», ein Porträt des Bruders in Texten und Bildern. «Sundergrund» wurde 2015 mit einem Literaturpreis des Kantons Bern ausgezeichnet.
Kurzbegründung der Literaturkommission für die Auszeichnung
«Roland Reichen hört, sammelt, liebt Worte und arbeitet mit einer Sprache von Menschen, welche uns ihre Geschichten aus eigenem Unvermögen nie erzählen würden. Er führt uns mit seinen Texten in den hinterletzten «Chrachen» und zeigt uns sowohl schonungslos als auch lustvoll, dass auch hier Tragödie und Komödie quasi aufeinanderliegen. Dafür zeichnet ihn die Stadt Bern auf Empfehlung der städtischen Literaturkommission mit einem Weiterschreiben-Stipendium aus.»
Mehr Informationen: www.menschenversand.ch/autoren/reichen-roland/
Laudatio der städtischen Literaturkommission
Roland Reichen
Atemlos lesen sich die Familiengeschichten in den Romanen von Roland Reichen. Und ein Atemholen ist auch den jeweils vier Familienmitgliedern: Vater, Mutter und den beiden Buben nicht gegönnt. Die Familien stammen aus der ländlichen Unterschicht, wo Rohheit und Gewalt in der männlichen Linie von Generation zu Generation weitergegeben werden, während die Mütter sich für alle anderen wie ein Suppentopf in der Armenküche leerschöpfen, immer wieder, bis nichts mehr übrigbleibt. In diesem Familienkosmos strampeln sich die Figuren in ihrer Einsamkeit nach ihren Wünschen ab und wirken dabei heillos überfordert.
Roland Reichen erzählt mit einer Sprache von Menschen, welche uns ihren Alltag aus eigenem Unvermögen nie erzählen würden. Wie mit einem Leben umgehen, das unbarmherzig ununterbrochen ins Gehirn einschlägt und wo kein Verdauungstrakt dafür vorgesehen ist? Ja, käme das Leben durch den Magen, dann könnte es dort vielleicht verdaut und wieder ausgeschieden werden. Der Versuch einiger Figuren, das Leben durch übermässiges Essen zu kompensieren, scheitert indes in Verstopfungen, Blähungen mit teilweise kolossalen Ausmassen. (Eine davon ist im Roman aufgrochsen nachzulesen.)
Was tun, mit diesem Leben im Kopf? Wie es verarbeiten und wieder rauslassen? Es wird als Folge geschlagen, geschrien, gekotzt, gefixt, mit Drogen betäubt, kapituliert und… geschrieben. Das Fassen in Sprache schafft eine Distanz, welche dem Beschriebenen aber zunächst nicht gerecht werden kann. So verzweifelt Sohn Beet in der im Jahr 2000 erschienen Kurzgeschichte Therapie/Anästhesie beinahe: «Er hat einfach keine Distanz zu dem, was er da jetzt zerknüllt. Leben hat er im Kopf und Leben, das lässt sich in Worten einfach nicht fassen!»
In seinem 2006 erschienen ersten Roman «aufgrochsen» hat Reichen dann eine Erzählstimme geschaffen, die durch eine äusserst genussvolle sprachliche Kombination von Schriftsprache und Dialekt direkt auf das Alltagsleben der Figuren zugreift. Dabei ist der Dialekt durchaus als Soziolekt zu verstehen. Durch das Dialektale gewinnt das Erzählen, welches in
Roland Reichens letztem Buch «Auf der Strecki» aus der Perspektive aller vier Familienmitglieder geschieht, an einer intensiven Nähe zu den Figuren und berichtet, ohne zu bewerten. Der Autor sammelt dialektale Worte und verarbeitet sie lustvoll zu einer unglaublichen Dichte und Fülle – ganz besonders in seinem zweiten Roman «Sundergrund». Die Texte werden so zu herzhaften Stücken, die uns vorgesetzt werden, und uns oft widerwillig zum Lachen bringen, denn so ist nun mal unser aller Leben: komisch tragisch.
Diese gelungene Unmittelbarkeit im Schreiben von Roland Reichen, lassen sich am besten mit den Worten seines Bruders Peter wiedergeben, welcher im Buch «Druffä». Aus dem Leben eines Berner Drogensüchtigen porträtiert worden ist und über Roland Reichens Schreiben sagt: «[E]r zeigt eben auch, dass Drogensüchtige ganz wie alle anderen auch ihren Alltag haben, ihre guten und schlechten Tage, ihre Hoffnungen und ihre Träume.»
Wir gratulieren Roland Reichen zum Weiterschreiben.
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Laudatio Roland Reichen (PDF, 84.1 KB) |