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1. August Empfang in der Orangerie Elfenau

1. August 2019

1. August Empfang

1. August 2019, 20.00 Uhr, Orangerie Elfenau
Stadtpräsident Alec von Graffenried

Es gilt das gesprochene Wort

Mesdames et Messieurs, Ladies and Gentlemen, sehr geehrte Gäste,

Herzlich willkommen in der Orangerie hier in der Elfenau.

Im Namen der Stadt Bern heisse ich Sie herzlich willkommen.

Heute ist unser Nationalfeiertag, ein perfekter Moment um innezuhalten und dankbar zu sein für alles Positive in unserem Leben.

Wenn wir dankbar sind, dann ist der Nationalfeiertag sicher der richtige Moment, um sich dankbar an die früheren Generationen zu erinnern, die uns diese Welt hinterlassen haben und uns so viele lebenswerte Optionen offen gehalten haben.

Wenn ich mich aber tagtäglich umhöre, die sozialen Medien lese, dann lese ich allerdings selten, dass die Menschen zufrieden und dankbar sind.

Im Gegenteil. Die Unzufriedenheit ist sehr präsent, sogar bei jenen mit schönem Haus und Garten, spektakulären Ferien und sicherem Einkommen. Die Unzufriedenheit ist nicht grösser als früher, aber bestimmt auch nicht kleiner.

Die Welt und insbesondere unsere Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verbessert – doch wir bleiben unzufrieden wie je zuvor. Mehr noch: Unsere Unzufriedenheit – und das macht mir besonders Sorgen, wird immer lauter. Sie wird im-mer öfter ungefiltert herausgelassen, in Online-Kommentaren, in Posts in den Sozialen Medien, oftmals anonym, dafür umso heftiger.

Woher kommt diese grosse Unzufriedenheit, obwohl es uns eigentlich gut geht? Diese Fragen beschäftigen mich stark.

Ja, weshalb werden wir nicht zufriedener, wenn die Dinge gut laufen? Weshalb gibt es so viel Wut bei uns und anderswo?

Die zunehmende Penetranz der negativen Reste
Der deutsche Philosoph Odo Marquard hat dies als «Gesetz der zunehmenden Penetranz der negativen Reste» beschrieben.
«Gesetz der zunehmenden Penetranz der negativen Reste!»

Das ist ein sehr sperriger Titel. Sprechen wir doch einfach von den penetranten Restproblemen.

Wenn wir keine Probleme mehr haben, quälen uns Dinge die früher keiner Erwähnung wert gewesen wären – und zwar mit konstanter emotionaler Wucht. Während man sich früher also Sorgen machte, ob die Kinder überhaupt genug zu essen kriegen, protestieren wir heute dagegen, dass in der Kita ungenügende vegane Varianten angeboten werden.

Eigentlich ist das gut verständlich. In der Stille vor Beginn eines Symphoniekonzerts stört bereits ein Hüsteln, das Sie im täglichen Verkehrslärm gar nicht wahrnehmen würden.

Das Gesundheitsparadox von Dr. Barsky
Dr. Arthur Barsky, Professor an der Harvard Medical School, hat dieses Gesetz für den Gesundheitsbereich bereits in den 80er Jahren beschrieben, er spricht vom Gesundheitsparadoxon.

Das Gesundheitsparadoxon lautet wie folgt: Obwohl sich unsere Gesundheit dramatisch verbessert hat, hat die Zufriedenheit mit der persönlichen Gesundheit im gleichen Zeitraum abgenommen. Objektiv verbessert sich die Gesundheit, subjektiv nimmt sie jedoch ab.

Verglichen mit der Zeit der Pest, der Cholera oder der Spanischen Grippe beschäftigt sich die Medizin heute oft mit den Folgen von Zivilisationskrankheiten. Verglichen mit einer Pestepidemie im 17. Jahrhundert, bei der bis zu einem Drittel der Bevölkerung an der Pestepidemie starben, erscheinen unsere heutigen Gesundheitsfragen als blosse Restprobleme. Aber die Bedrohung unserer Gesundheit ist uns heute viel wichtiger, als im 17. Jahrhundert. Da sind sie wieder, die penetranten Restprobleme.

Die Süddeutsche Zeitung titelte jüngst dazu: «Grund zu Jammern gibt es immer». Die These ist auch hier, dass sich viele Probleme zwar lösen lassen, aber dass wir wegen immer kleineren, oft banalen Ursachen immer wieder unzufrieden sind. Das sind eben die penetranten Restprobleme.

Zum Beispiel der Brexit
Für mich ist der Brexit das prominenteste Beispiel der Penetranten Restprobleme. Wie konnte sich eine gesamte, eigentlich zufriedene Gesellschaft wie Grossbritannien über einer relativ nebensächlichen Frage so entzweien? Sollen wir volles Mitglied der EU sein, oder lieber nicht? Über dieser Frage hat sich die Britische Gesellschaft völlig zerstritten. Gut, man mag streiten, ob dies ein Restproblem ist oder nicht. Ich sage, es geht im wesentlichen darum, wie Grossbritannien seine Handelsbeziehungen und die Migrationspolitik mit Europa organisiert. Natürlich ist das nicht so unwichtig. Aber Grossbritannien steht nicht im Krieg wie unter Churchill 1942. Im Gegenteil. Boris Johnson hat sich vor zwei Monaten in Interlaken gefreut, in welch glänzender Verfassung sich Grossbritannien befinde. Infolge der Absenz wirklicher, existenziell bedrohlicher Probleme hat Grossbritannien definiert, das grösste und einzige Problem des Landes bestehe in der Mitgliedschaft in der EU. Im Streit über dieses penetrante Restproblem haben Boris Johnson und seine Freunde die Britische Gesellschaft an den Rand der Selbstzerfleischung geführt.

Aber heute ist der 1. August, heute stehen nicht die Negativen Restprobleme im Zentrum, heute geht es um die positiven Werte der Schweiz. Heute möchte ich darüber sprechen, warum es der Schweiz so gut geht.

Und da beziehen wir Schweizer uns ja in der Regel auf Wilhelm Tell. Wilhelm Tell gilt als unser Nationalheld. Interessanterweise ist es ja ein Deutscher, Friedrich Schiller, der für uns Schweizer den Tell so wichtig gemacht hat. Schillers Drama Wilhelm Tell ist ein reicher Fundus an Zitaten.

Stauffacher oder Tell?
Der Starke ist am mächtigsten allein, sagt Wilhelm Tell bei Schiller. Dies entspricht allerdings nicht dem Modell der Schweiz. Der Starke ist am mächtigsten allein, sagt Tell. Er sagt dies im Gespräch mit Werner Stauffacher, der von seiner Frau Gertrud Stauffacher den Auftrag hatte, eine Gemeinschaft zu begründen. Stauffacher setzt Tell daher die Gemeinschaft gegenüber; er sagt: «Wir könnten viel, wenn wir zusammenstünden. » Tell entgegnet: «Beim Schiffbruch hilft der Einzelne sich leichter. Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst.» Stauffacher sagt dann aber den entscheidenden Satz: «Verbunden werden auch die Schwachen mächtig». Damit legt Stauffacher und nicht Wilhelm Tell, die Grundlage für die Schweiz. Denn wie steht es in der Präambel der Schweizer Verfassung geschrieben?
Wir wissen, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.

Zusammen, nicht allein
Die Schweiz, das ist das Bekenntnis, zusammen zu arbeiten, zueinander zu schauen, auch für die Schwachen zu sorgen, denn nur gemeinsam sind wir stark, gemeinsam sind auch die Schwachen mächtig. In unsere Bundesverfassung ist also nicht das Gedankengut von Wilhelm Tell, sondern dasjenige von Gertrud und Werner Stauffacher eingeflossen. Tell war einsam, die Schweiz ist gemeinsam.

Am 1. August ist immer wieder Zeit, sich an diesen ursprünglichen Gesellschaftlichen Vertrag zu erinnern!

Miteinander leben. Miteinander gestalten. Einander zuhören. Einander helfen. Füreinander sorgen. Das ist es, was die Schweiz ausmacht.

Die Schweiz ist heute nicht existentiell bedroht. Auch in der Schweiz beschäftigen wir uns oft mit penetranten Restproblemen. Aber auch hier, oder gerade hier, sollten wir uns daran erinnern, dass wir unsere Probleme nicht gegeneinander, sondern nur miteinander lösen können. Wie überall auf der Welt, bringt uns nur die Zusammenarbeit ans Ziel. Nicht einsam, wie Tell. Zusammen. Wie Stauffacher.

Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen einen schönen Abend!
Wir singen nun gemeinsam die Schweizer Nationalhymne, im neuen Text, nach der Schweizerischen Bundesverfassung.

Weisses Kreuz auf rotem Grund,
unser Zeichen für den Bund:
Freiheit, Unabhängigkeit, Frieden.
Offen für die Welt, in der wir leben,
lasst uns nach Gerechtigkeit streben!
Frei, wer seine Freiheit nützt,
stark ein Volk, das Schwache stützt.
Weisses Kreuz auf rotem Grund,
unser Zeichen für den Schweizer Bund.

1. August Empfang Orangerie Elfenau, Rede Alec von Graffenried, 01.08.2019
Titel
1. August Empfang Orangerie Elfenau, Rede Alec von Graffenried, 01.08.2019 (PDF, 179.7 KB)

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