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Ansprache anlässlich des 1.-August-Empfangs

1. August 2022

1.-August-Empfang von Stadtpräsident Alec von Graffenried anlässlich des 50. Todestag von Mani Matter, 1. August 2022

(Es gilt das gesprochene Wort)

Mehr Hemmige, bitte!

S'git Lüt, die würdet alletwäge nie
Es Lied vorsinge, so win ig jitz hie
Eis singe um kei Priis, nei bhüetis nei
Wil si Hemmige hei …

Most people would certainly never sing a song,
like I am doing here right now.
To sing a song, no way,
because they have inhibitions…

Dieser Vers stammt vom Berner Chansonnier Mani Matter, es ist eine seiner berühmtesten Liedzeilen. Mani Matter war ein genialer Berner Künstler, ich werde später auf ihn zurückkommen.

Sehr geehrte Damen und Herren
Exzellenzen
Liebe Gäste

Willkommen zur 1. Augustfeier hier in Bern.

Ich danke Ihnen, dass Sie unserer Einladung folgen konnten.

Besonders begrüsse ich zum letzten Mal hier unter uns die Botschafterinnen und Botschafter von Südafrika, Grossbritannien, Japan, Kuwait, Kolumbien, Costa Rica und Norwegen.

Wir feiern heute unseren Nationalfeiertag, wir feiern das friedliche Zusammenleben hier in der Schweiz und Europa.

In diesem Jahr begehen wir unseren Nationalfeiertag allerdings in einer Periode einer echten Krise. Man sollte diese

Worte nicht unbedacht verwenden, aber aktuell treffen sie leider zu. Seit dem 24. Februar erleben wir einen Krieg, wie wir ihn in Europa seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr gesehen haben. Es ist nicht ein Krieg zwischen zwei Staaten oder gar zwei Völkern, sondern es ist ein ruchloser, hinterhältiger Angriff eines terroristischen Diktators auf ein demokratisches Nachbarland, die Ukraine. Die Ukraine, die auf dem Weg war, ein friedliches und demokratisches Mitglied der Staatengemeinschaft zu werden.   Mit dem russischen Angriff sind auch die Kriegsverbrechen und ist der Staatsterrorismus nach Europa zurückgekehrt, was ich in dieser Form nie für möglich gehalten hätte. Ich bin froh, dass bereits jetzt die nötigen Beweise gesichert werden, um die Verbrechen später auch aufklären zu können.

Das ist nicht das Thema unseres Nationalfeiertages. Am 1. August wollen wir unsere Gedanken darauf verwenden, wie die Gesellschaft zusammengeführt werden kann, wie ein solides Fundament für ein friedliches Zusammenleben gestaltet werden kann. Nicht Hass, Krieg und Zerstörung ist das Ziel unseres Zusammenlebens und letztlich auch die Kunst der Politik, sondern das Schaffen von Frieden und Ausgleich. Das streben die Schweiz und Europa nun seit Jahren an.

Der französische Botschafter in der Schweiz Frédéric Journès drückte es am 14. Juli 2022 für mich sehr treffend aus:

«Ce n'est pas toujours facile ici, mais c'est notre devoir dire que l'Europe, c'est bien… C'est compliqué, on n'est pas d’accord sur tout, mais ça fonctionne et ça avance.»

Er hat in Erinnerung gerufen, dass wir nur dank der europäischen Einigung und der Europäischen Union von dieser langen Friedensperiode profitieren konnten. Nur ein geeintes Europa ist ein starkes Europa. Auch nach dem Kriegsausbruch ist Europa pluralistisch, aber Europa ist geeinter denn je. Europa ist stärker, souveräner und auch sozialer als je zuvor – dank der Europäischen Union.

Wer sich seiner eigenen Identität sicher ist, ist offener gegenüber Fremden und sicherer im Umgang damit. Ich bin Mensch, ich bin Berner, ich bin Schweizer und ich bin Europäer. Die Schweiz ist unsere Heimat, und die Heimat der Schweiz ist Europa, so hat es Peter von Matt einst am 1. August so genial auf den Punkt gebracht.

Ich war letzte Woche in Sarajevo. Im Rathaus von Sarajevo wurde ein Museum eingerichtet zur Erinnerung an die Kriegsverbrecherprozesse der letzten Jahre wegen des Bosnienkrieges. Bosnien zeigt uns zwei Dinge. Auf der einen Seite wurden die Kriegsverbrechen konsequent verfolgt und die Kriegsverbrecher dem Gericht zugeführt. Auf der anderen Seite hat der Krieg tiefe Wunden geschlagen und eine zerrissene, vom Nationalismus zerfressene Politlandschaft zurückgelassen. Die Situation in Bosnien erscheint ausweglos. Nur Kraft und Energie von ausserhalb, ein Beitritt zur Europäischen Union, scheint in der heutigen Lage die Situation in Bosnien befrieden können. Nur mit der Hilfe und Unterstützung aus Europa wird Bosnien wieder auf die Beine kommen und aus der Sackgasse raus finden.

Der heutige Krieg gegen die Ukraine erinnert in vielem an die Kriege in Ex-Jugoslawien. Hass kann geschürt werden, Gesellschaften können gespalten werden. Dafür braucht es nationalistische oder rassistische Ideologien, dafür braucht es aber auch rücksichtlose, hemmungslose Kriegsverbrecher.

Mani Matter hat dies bereits vor über 50 Jahren vorhergesehen. Die letzte Strophe des Lieds Hemmige lautet wie folgt: 

Und we me gseht, was hütt dr Mönschheit droht
So gseht me würklech schwarz, nid nume rot
Und was me no cha hoffe isch alei
Dass si Hemmige hei.

When we see what threatens humanity today,
We see rather black, not merely red.
And what we hope is alone
that they have inhibitions to do it.

Mani Matter hatte einmal geäussert, dass Hemmige zu haben die wichtigste Kulturleistung der Menschheit seien. Nach dem hemmungslosen Krieg neige ich dazu, ihm zuzustimmen. Für den Ukrainekrieg haben sich seine Hoffnungen leider zerschlagen, hier hat die russische Führung sämtliche Hemmungen abgelegt.

Mani Matter ging leider viel zu früh von uns: er wurde nur 36 Jahre alt. Er verstarb vor 50 Jahren, im November 1972 bei einem Autounfall auf dem Weg zu einem Auftritt. In drei Tagen wäre sein 86. Geburtstag. Doch er hat uns trotz seines kurzen Lebens ein umfassendes Werk hinterlassen, dieses Werk ist präsent und populär wie eh und je. Seine Lieder werden gesungen, sie werden gecovert, sie werden geliebt. Gerade wieder ist eine neue Generation von Musiker*innen daran, seine Texte für sich zu entdecken: Auf TikTok sang zum Beispiel der junge Rapper Luca Lang alias Pato jüngst Mani Matter Lieder.

Oder die Fans im Fussballstadion sangen auch gestern wieder Mani Matter Lieder als Fangesang.

Spannend ist Mani Matter aber vor allem, weil seine Lieder ungeheuer gehaltvoll sind, weil sie auf einem breiten philosophischen, staatswissenschaftlichen und soziologischen Wissensfundament aufgebaut sind, das durchaus taugt, das friedliche Zusammenleben in der Schweiz zu erklären. 

Mani Matter war von Beruf Jurist und arbeitete zuletzt als Rechtskonsulent für die Stadt Bern. Bevor er sehr praktisch als Jurist für die Stadt Bern zu arbeiten begann, widmete er sich vor allem der Wissenschaft, mit Schwerpunkten in der Staatstheorie und der Ideengeschichte. Das Schreiben und Singen fanden in der Freizeit statt. Er sagte von sich selbst, dass er einerseits am Funktionieren der Zivilisation arbeite, er andrerseits die Leute mit Liedern unterhalte. Diese Unterhaltung mit dem Publikum nahm er sehr ernst – und nahm sich entsprechend Zeit dafür.

Mani Matter arbeitete wie gesagt lange Jahre wissenschaftlich und befasste sich vor allem mit dem friedlichen Zusammenlebe im Staat. Entsprechend seiner differenzierten und zutiefst demokratischen Überzeugung widmete er sich intensiv der Pluralismustheorie, zu der er eine umfassende Übersicht verfasste. Ganz offensichtlich überzeugten ihn die pluralistischen Ansätze auch, die einem starken Staat einen von der pluralistischen Gesellschaft getragenen Konsens entgegenstellen. 

Ein weiteres Zitat Mani Matters illustriert dies sehr gut:

«Dass einer von einem Standpunkt aus, den wir nicht teilen, seine Betrachtungen anstellt, heisst nicht, dass diese Betrachtungen für uns wertlos sind. Es ist möglich, dass er von dort aus Dinge sieht, die uns von unserem Standpunkt aus entgehen.»

Immer wieder erzählt uns Mani Matter Geschichten, die in kleinere oder grössere Katastrophen münden, oder eben gerade noch glimpflich ausgehen.

  • In I han es Zündhölzli azündt erfahren wir zum Beispiel wie ein Zimmerbrand und damit ein dritter Weltkrieg verhindert werden kann. 
  • Si hei dr Willhelm Täll ufgfüehrt veranschaulicht hingegen, wie eine Theateraufführung von Wilhelm Tell im Dorf in ein tumultuöses Gemetzel mündet.

In «Dene wo’s guet geit» beschreibt er in zwei knappen Strophen, gleichzeitig den Nutzen und die Grenzen des Sozial-staats. 

Mani Matters Texte waren phantasie- und humorvoll. Seine Reime und Sprachspielereien bleiben im Berndeutsch das Mass aller Dinge. Doch die wahre Genialität erschliessen sich einem oft erst im Laufe der Zeit, wenn die Texte, die man einst nur lustig fand, von der Realität eingeholt werden und so noch zusätzlich an Tiefe gewinnen.

Im Lied Dynamit rettet Mani Matter die Demokratie in der Schweiz, da er einen Terroranschlag auf das Schweizer Parlamentsgebäude verhindert. Er überredet den Terroristen aus Liebe zur Schweiz auf seinen Anschlag zu verzichten. Auch dies eine Szene, die seit dem 6. Januar des letzten Jahres mit dem Sturm auf das Capitol wie eine Vision anmutet.

Loufi am Bundeshuus sider verbii, muesi geng dänke s schteit nume uf Zit, es länge fürs spränge es paar Seck Dynamit.

When I walk by the Parliament building, I always think that it's only there for a while and all it would take is a few bags of dynamite to blow it away.

Mani Matter war ein versierter Denker und ein Verfechter der Demokratie: «Nur wer die Demokratie bankrott erklärt, kann es undemokratisch nennen, darauf zu drängen, dass die Fähigsten die hohen Ämter erhalten.» Er war auch ein kritischer Bürger, der auch unpopuläre Gedanken kundtat:

«Die Hunde bellen; die Karawane schreitet weiter. – Vielleicht ist es doch besser, zu den Hunden zu gehören; sie haben wenigsten noch gebellt.» The dogs bark; the caravan moves on. – Perhaps it is better to belong to the dogs; at least they still bark.

Mani Matter ist also unser Nationaldichter hier in Bern. Er hat viele Gedanken formuliert, die unser Lebensgefühl wiedergeben, sei es in seinem künstlerischen oder in seinem wissenschaftlichen Werk. 50 Jahre nach seinem Tod erinnere ich mich dankbar an sein engagiertes Leben und Werken zurück.

Sie dürfen nun all Ihre Hemmungen ablegen, also hemmungslos über das Buffet herfallen und den Apéro geniessen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen wunderschönen 1. August!

Weitere Informationen.

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