Referat anlässlich des Point de Presse «Neue Frauen- / FINTA-Notschlafstelle in der Stadt Bern»
Referat von Gemeinderätin Ursina Anderegg, Direktorin für Bildung, Soziales und Sport, anlässlich des Point de Presse «Neue Frauen- / FINTA-Notschlafstelle in der Stadt Bern», 17. Juni 2025
(Es gilt das gesprochene Wort)
Liebe Medienschaffende
Liebe Anwesende
Seit Ende 2021 ist die Zahl obdachloser Menschen in der Stadt Bern kontinuierlich angestiegen. Im Winter 2024/25 waren es durchschnittlich 40 bis 60 Personen, die draussen übernachten mussten, obwohl wir in der Tiefenau 20 zusätzliche Plätze anbieten konnten.
Wieso die Zahl steigt, kann nicht abschliessend beantwortet werden; die Hintergründe sind wissenschaftlich noch nicht erhärtet. Vermutet wird, dass dies unter anderem mit der Überlastung psychiatrischer Kliniken in der Schweiz und mit den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zusammenhängt:
Rund die Hälfte der obdachlosen Menschen in der Stadt Bern leiden an teilweise gravierenden, psychischen Erkrankungen, häufig kombiniert mit einer Suchterkrankung. Ihnen stehen oft keine oder nur hochschwellig erreichbare Angebot zur Verfügung; faktisch erhalten sie nicht die nötige Gesundheitsversorgung und keine angemessene Betreuung.
Die Situation von Personen, die bereits vor der Pandemie in prekären Verhältnissen lebten, wurde tendenziell verschärft. Die Nachfrage nach Lebensmittelspenden und niederschwelliger Nothilfe ist ungebrochen hoch; die Hilfswerke und Kirchen verzeichnen hohe Nachfragen nach Unterstützung. Der gute Arbeitsmarkt und die tiefen Zahlen beim Bezug von Sozialhilfe vermitteln hier ein falsches Bild. Die Gruppe von Personen, die durchs soziale Netz fallen, ist gewachsen.
Der Gemeinderat hat im November 2023 die Strategie Obdach verabschiedet. Darin sind verschiedene Massnahmen festgehalten, um für den steigenden Bedarf eine Antwort zu finden. Damit erfüllt er zudem einen politischen Auftrag aus dem Stadtrat, der im März 2023 verschiedene Vorstösse für erheblich erklärt hatte. Das zusätzliche Angebot soll berücksichtigen, dass die Gruppe der obdachlosen Menschen aus Personengruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen besteht. Eine Gruppe darunter sind Frauen, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans und agender Personen, kurz FINTA.
Studien zeigen, dass obdachlose FINTA häufiger psychische, physische und sexuelle Gewalt erfahren und oft bereits vor der Obdachlosigkeit signifikant häufiger Gewalt erlebt haben als obdachlose Männer. Sie fühlen sich in gemischtgeschlechtlichen Notschlafstellen oft unsicher und meiden diese.
Wie hoch der Bedarf an spezifischen FINTA-Notschlafplätzen genau ist, lässt sich nicht präzise bestimmen. Die Datenlage ist generell sehr dünn. Ihr Anteil an der Gesamtzahl obdachloser Menschen wird auf 17 bis 25 Prozent geschätzt – je nach Studie.
In der Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz wird zudem darauf hingewiesen, dass bei obdachlosen FINTA von einer hohen Dunkelziffer auszugehen sei. Begründet wird dies unter anderem damit, dass geschlechtsspezifische Notschlafangebote fehlen würden: Da FINTA nicht auf Angebote zurückgreifen können, die ihren besonderen Bedürfnissen entsprechen und in denen sie sich sicher fühlen, nutzen sie die Notschlafangebote weniger. Beispielsweise muss eine Notschlafstelle für FINTA einen 24-Stunden-Betrieb gewährleisten können, denn einige FINTA arbeiten nachts, beispielsweise in der Sexarbeit.
Ich bin froh, dass wir mit der heutigen Eröffnung der FINTA-Notschlafstelle unser Angebot im Bereich Wohnen/Obdach um ein Puzzleteil erweitern und für diese besonders vulnerable Gruppe ein spezifisches Angebot schaffen konnten.
Bereits im Mai hat der Gemeinderat den Leistungsvertrag mit der Notschlafstelle pluto für junge Menschen genehmigt, und für den nächsten Winter wollen wir wieder ein zusätzliches allgemeines Angebot schaffen, wie wir es im letzten Winter in der Tiefenau hatten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Nun übergebe ich das Wort Claudia Hänzi.