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Literarische Auszeichnungen 2023

Sandra Forrer erhält den Welti-Preis für Theatertexte 2023. Mirko Beetschen, Tine Melzer, Martin Oesch, Eva Rust und Anna Schmid erhalten das Stipendium Weiterschreiben.

Laudatio für Sandra Forrer, Welti-Preis für Theatertexte 2023

Der Welti-Preis für Theatertexte wird nur dann verliehen, wenn die Literaturkommission der Stadt Bern eine*n würdige*n Preisträger* ausmacht – und die Kommission ist überzeugt, mit Sandra Forrer genau eine solche Preisträgerin gefunden zu haben.

In ihren Texten geht Sandra Forrer mutig dorthin, wo es weh tut. Sie erzählt ihre Geschichten konsequent, lässt ihre Figuren behände und stringent sich in ihren Universen bewegen. Dabei scheut Sandra Forrer es nicht, ihre Themen ohne Kompromisse zu verhandeln. Dabei versteckt sich Sandra Forrer nicht hinter ihren Texten oder Figuren. Vielmehr verwebt sie ihre Geschichten mit ihrer Persönlichkeit. Sie zeigt damit ihr leidenschaftliches Einstehen für ihre Themen – und auch ihre eigene Verletzlichkeit. Was dabei entsteht, ist für die Zuschauenden und Lesenden schwer in Worte zu fassen – eine Verbundenheit, Nähe und Intimität mit dem Erzählten und den Erzählenden, die so in wenigen Theatern zu finden ist. 

Sandra Forrers Themen sind dringlich, sie haben eine Relevanz.

In ihrem Stück «La Cabane – Die Hütte» verleiht die Autorin der namenlosen Frau eine Stimme, die als erschöpfte Aussteigerin dargestellt wird. Diese Frau steht vor der verzweifelten Frage, wie sie als Mutter berufliche Ambitionen und das Muttersein in Einklang bringen kann. Sie stellt die grundsätzliche Frage, warum Frauen sich oft gezwungen fühlen, zwischen Kind und Karriere zu wählen, während es für Männer scheinbar mühelos möglich ist, beides zu vereinen und sogar am Wochenende noch Zeit für ihre Hobbys zu finden, wie beispielsweise das Mountainbiken. Der Text basiert auf Antworten von verschiedenen Frauen, die Sandra Forrer auf einen Fragenkatalog zum Thema Gleichstellung bekommen hat. Sie schafft dadurch einen einzigartigen Zugang zum Thema und verankert es unweigerlich im realen Leben – sich als Zuschauer*in diesem Sog zu entziehen, ist schier unmöglich. La Cabane – Die Hütte ist ein beklemmender gelungener Versuch, die Freiheit der Frau mit Hilfe unterschiedlichster Perspektiven zu durchleuchten und selbstverständlich in Frage zu stellen. Das Stück bewegt sich zwischen der Härte der Realität, der Verzweiflung der Frau – und lässt trotzdem Momente der Poesie und Sinnlichkeit zu. Ohne den Fokus für ihre Deutlichkeit zu verlieren.

Mit dem Stück «Widde-widde-wie es uns gefällt» macht sich Sandra Forrer für die Schwächsten stark – psychisch erkrankte Kinder. In einem Interview mit der Basler Zeitung, erzählt Forrer von ihrer ersten Depression mit sieben Jahren und dass sie dafür keine Sprache hatte. In Workshops mit Kindern schuf sie die installative Performance, ein Kinderzimmer auf der Bühne, das eine Verbindung zur inneren Welt kindlicher Seelen herstellt und erfahrbar macht.  Die Performance bricht das Schweigen, rüttelt am Tabu, über psychisch kranke Kinder nicht zu sprechen. Macht Ohnmacht und Einsamkeit eindrücklich erfahrbar.

Spricht man mit Weggefährt*innen von Sandra Forrer, so wird eines immer wieder betont: Das echte Engagement, der unbändige Drang zu erzählen, zu konfrontieren und zu hinterfragen.

Mit dem Welti-Preis für Theatertexte will die Literaturkommission der Stadt Bern diese starke und wichtige Stimme in der Theaterszene hören, aber auch ermutigen, laut, unbequem und beharrlich diesen einzigartigen Weg weiterzugehen. Wir gratulieren Sandra Forrer zum Welti-Preis für Theatertexte.

Laudatio für Mirko Beetschen, Weiterschreiben 2023

Mirko Beetschens Bücher zu lesen ist ein grosser Genuss. Sein Wille, eine jeweils eigene Welt zu erschaffen ist eindrücklich und wird vom Psychothriller «Schattenbruder» über die Gothic Novel «Hotel Belveder» bis zum Thriller «Das Haus der Archtektin» immer mutiger, ausgeklügelter und überzeugender. In seinem Erstlingswerk «Schattenbruder», wo es um Stalking geht und welcher vor neun Jahren erschienen ist, scheint folgender Satz eine Art Schreibmotto für Mirko Beetschens Texte zu sein. Die Hauptfigur Samuel stösst beim Stöbern in einer Kiste mit gebrauchten Büchern auf ein unscheinbares Taschenbuch. Er ist von dessen Stil sehr angetan: (Zitat) «Der Autor benutzte eine simple, aber elegante Sprache, um seine mysteriöse Geschichte zu weben, und in kürzester Zeit hatte er Samuel in die Atmosphäre seiner fiktiven Welt eingesponnen.» Diesen Anspruch scheint auch Mirko Beetschen an seine Bücher zu haben und er setzt diesen dann im Schauerroman Hotel Bel Veder und in gesteigerter Form in seinem dieses Jahr erschienen Thriller «Das Haus der Architektin» mit grossem Können um.

So liest sich der erste Satz im zuletzt erschienen Buch wie eine Koketterie den Lesenden gegenüber: (Zitat) «Wie beschreibt man etwas, das eigentlich nicht sein kann?» Denn genau dies macht der Autor danach mit Lust und Exaktheit auf den kommenden 220 Seiten: Er schreibt eine unheimliche Geschichte, voller Irritationen, Verschiebungen, Brüchen.

Besonders hervorzuheben sind Mirko Beetschens Beschreibungen von Stimmungsbildern, insbesondere die detailreichen – aber nicht überladenen – Wiedergaben von Räumen und der darin herrschenden Atmosphären. Auch ungeduldige bzw. sehr schnelle Lesende kommen nicht darum herum, diese Räume vor ihrem inneren Auge zu sehen, in ihnen zu sein, Korridore entlangzugehen, Treppen zu hochzusteigen und aus Fenstern zu blicken. Es sei hier gesagt, dass die beiden Gebäude, also das «Hotel Bel Veder» – ein verlassenes Grandhotel – sowie das Haus der Architektin – eine gewaltige Betonburg – immer viel zu gross sind für die Personen, welche sich darin aufhalten. Dies verstärkt natürlich den Gruseleffekt. Während sich im Hotel Bel Veder eine vermeintlich Erbgemeinschaft in einem Kammerspiel trifft, um das Erbe anzutreten, hält sich der Architekturjournalist mit seinen zwei Hunden alleine im Haus der Architektin auf.

Neben den Hauptfiguren aus Fleisch und Blut sind die beiden Häuser die Hauptprotagonisten aus Holz, Stein, Beton… Eigentlich ist ja die Materie, woraus ein Mensch besteht, bekannt und eigentlich ist auch den Protagonisten und Protagonistinnen bekannt, woraus die Gebäude bestehen. Mehr noch: Sie verfügen teilweise über die Baupläne, sie gehen in ihnen frei umher, beklopfen, erforschen sie, grübeln in ihnen rum. Aber es kann hier noch so erkundet, rumgestochert und -gebohrt werden, zum eigentlichen Kern gelangen sie weder beim Hotel noch beim Haus der Architektin. Diese beiden lassen sich ihre Geheimnisse nicht entreissen und wer es trotzdem versucht, muss büssen. 

Vom Hotel Bel Veder haben die Lesenden schnell ihre Vorstellungen: Ein verlassenes Grand Hotel auf der Finsternalp im Berner Oberland steht. Wir sehen es rasch vor unserem inneren Auge. Nicht so beim Haus der Architektin: Es steht auf einer Moorinsel im Naturreservat Fanel im Neuenburgersee… Unsicherheit und Irritation ergreifen die Lesenden: der Griff zum digitalen Lexikon erfolgt heimlich, um die eigene Wissenslücke zu überprüfen: Gibt es diese Insel? Die Moorlandschaft? Und so geht es im Text weiter. Noch nie hat jemand das Haus der Architektin betreten und so müssen sich die Lesenden alles neu erlesen, denn kein Raum, kein Gang entspricht den Vorstellungen in der Architektur, es ist etwas so noch nie Erbautes, noch nie Dagewesenes. Dazu kommt, dass das Haus im Moor steht und es düster, verlassen und gruselig ist, schreckliche Dinge passieren, es gibt kein Entkommen. Stünde dieses Haus im Dartmoor in Südengland, fänden wir es vielleicht «normal». Der grosse Kniff, den Mirko Beetschen hier macht, ist, dass er diese Landschaft zu uns an den Neuenburgersee geholt hat. Sie existiert. Nach dem Lesen dieses Buches wird Ihre Sicht auf den Neuenburgersee nie wieder derselbe sein.

Laudatio für Tine Melzer, Weiterschreiben 2023

«I have changed my mind» – ich habe meine Meinung geändert, wie ein Fähnchen im Wind.

«I have changed my mind» – Das ist der Titel eines Projekts von Tine Melzer, das die interdisziplinäre Künstlerin 2005 in Island realisiert hat. Es ist eine Intervention im öffentlichen Raum mit Flaggen, auf denen steht: «I have changed my mind». Es ist ein politisches Kunstprojekt über öffentliche Meinungsäusserung und ein gutes Beispiel dafür, wie Tine Melzer Sprache als Materie für ihre Kunst verwendet.

Tine Melzer ist Autorin, Künstlerin und Philosophie. Ihre Arbeit verbindet Sprachphilosophie mit bildender Kunst und Literatur. Und dieses Jahr ist Tine Melzers literarisches Debüt erschienen: «Alpha Bravo Charlie»

Der Titel bezieht sich auf das internationale Buchstabieralphabet, das im internationalen Funkverkehr verwendet wird, zum Beispiel in der Luftfahrt. Der Titel heisst also nichts anderes als ABC. Und weil das Alphabet mit seiner klaren Reihenfolge für Ordnung steht, passt dieser Titel ganz hervorragend zu diesem Buch.

Erzählt wird ein Tag im Leben des pensionierten Kurzstreckenpiloten Johann Trost. Er ist ein eigenbrötlerischer, kauziger Mensch, der die Ordnung liebt, Regeln mag und klare Prinzipien hat. Er ist geschieden, findet seine Mitmenschen und die gesellschaftlichen Erwartungen manchmal eine Zumutung. Und er hat eine ausgeprägte Schwäche für Zahlen und fürs Zählen, manche Zahlen sind ihm äusserst sympathisch (10, 12) andere gar nicht (1), mit der Drei hat er Mitleid.

An diesem einen Tag entscheidet er sich, eine Modelllandschaft zu bauen. Vielleicht, um wieder den distanzierten Blick – eine Draufsicht – auf die Welt zu haben, wie er es von seiner Arbeit als Pilot kennt. Denn seit er nicht mehr fliegt, scheint ihm die Übersicht zu fehlen. «Ich baue eine Miniaturlandschaft, weil ich weit weg sein will.» Er vermisst seine Uniform und seinen klar geregelten Arbeitstag.

Natürlich ist die Modelllandschaft auch ein geeigneter Zeitvertreib für Johann Trost, der sich erst spät darum gekümmert hat, was mit und nach seiner Pensionierung kommt. Er bezeichnet sich selbst als Statist der Stadt und er scheint auch in seinem eigenen Leben keine besonders aktive Rolle zu spielen.

Tine Melzer verhandelt in «Alpha Bravo Charlie» zutiefst menschliche Fragen: Wie finde ich meine und die richtige Rolle im gesellschaftlichen Kontext? Was ist mein Beitrag? Was passiert mit mir, wenn ich keiner Lohnarbeit mehr nachgehe? Wie werde ich gesehen? Werde ich gesehen?

Es geht im Buch ebenfalls darum, Differenzen auch mal stehen zu lassen. Vieles ist der Hauptfigur Johann Trost unbegreiflich (zum Beispiel: Sport als Hobby), aber auch Trost weiss, dass er auf andere seltsam wirkt.

Wir sind oft hart im Urteil mit anderen, und auch mit uns selbst – Johann Trost geht es da nicht anders.

In ihrem Romandebüt arbeitet Tine Melzer mit einer äusserst dichten und reduzierten Sprache und die Art, wie sie die Geschichte erzählt, zeugt von einem ausgeprägten Formbewusstsein.

Die Literaturkommission der Stadt Bern ist fasziniert von der vielfältigen Art, wie Tine Melzer in ihrem Werk mit Sprache arbeitet. Sei es in der theoretischen Auseinandersetzung mit Sprache, sei es in der Kunst, sei es in der literarischen Arbeit der Autorin. Diese interdisziplinäre Arbeitsweise ist zukunftsweisend und wir freuen uns auf alles, was uns Tine Melzer noch bieten wird.

Herzliche Gratulation an Tine Melzer zum Weiterschreiben Stipendium 2023.

Laudatio für Martin Oesch, Weiterschreiben 2023

«Darf’s no nes Redli Wurscht sy?»

Wer kennt ihn nicht, diesen Satz aus Kindertagen, mit dem die Frau oder der Mann hinter der Fleischtheke versuchte, uns für sich zu gewinnen und die Gedanken über die Vorgeschichte vergessen zu machen, die die zumeist rot in allen Schattierungen schimmernden und säuberlich aufgereiht feilgebotenen Produkte hatten?

Und wer kennt sie nicht – all die Sprachbilder und Redewendungen, die mit Fleisch zu tun haben, aber das Schlachthaus längst verlassen und Eingang gefunden haben in unsere Alltagssprache? – Der Lehrer kommentiert den Aufsatz, er wünsche sich bei der Argumentation «mehr Fleisch am Knochen»; bei der feindlichen Übernahme eines Unternehmens wird das «Filetstück» zurückbehalten und der Rest «verwurstet». In der Polit-Sendung werden die Kandidatinnen «gegrillt»...

Solche Metaphern haben im Kern den Tod in sich und sind doch in aller Munde – ihre Vielfalt und Verbreitung zeigen, dass die Zeit noch nicht so lange zurückliegt, als unser Land und der europäische Kontinent deutlich agrarisch geprägt waren, bevor die Industrialisierung auch der Nahrungsmittel­produktion stark Überhand nehmen sollte. Trotz des vergleichsweise kleinen Zeitsprungs ins Heute ist uns die Nähe zu den Tieren und Pflanzen, die später in verarbeiteter Form auf unserem Teller landen, abhandengekommen.

Es stellt sich aber zunächst eine grundsätzliche Frage: Dürfen wir Tiere töten und sie essen?

Die Werbung wiegt uns in Sorglosigkeit und wischt mit einer Handbewegung – «tsch, tsch» – alle Bedenken weg. Dabei wäre ein wenig Reflexion über den Umgang mit Nutztieren, über das konsumistische Verhalten und auch über die Produktionsbedingungen heilsam.

Gestatten Sie einen kurzen Rückblick: Beat Sterchi thematisierte in seinem fulminanten Debutroman «Blösch» bereits 1983 mit der Geschichte des spanischen Melkers Ambrosio und der prächtigen Leitkuh Blösch den ausbeuterischen Prozess an Tier und Mensch: Gastarbeiter und Kuh leben zunächst auf einem Schweizer Bauerndorf in der vermeintlichen Idylle und werden schliesslich in einem Schlachthof zugrunde gerichtet.

Wie Beat Sterchi hat auch Martin Oesch ursprünglich den Metzgerberuf erlernt. Er kennt den Griff zum Messer, er weiss um die Gewalt, die bei der Schlachtung einer Kuh freigesetzt wird. Über sich schreibt er: «Seit ich gehen kann, metzge ich, und seit ich denken kann, zeichne ich.»

Seine Feder ist nicht minder scharf. Das erstaunt nicht weiter, sieht er sich nicht nur als Metzger und Illustrator, sondern auch als Aktivist.

In seiner aktuellen Arbeit mit dem Projektnamen «Blut an meinen Händen» erzählt Martin Oesch von Erwin, einem schnauzbärtigen Metzgermeister, der, angesichts des anstehenden Übergangs ins Pensionsalter, dem drohenden Scheitern einer guten Nachfolgeregelung für seinen Kleinbetrieb entgegenblickt. Die fortwährende Konzentration der Fleischproduktion auf immer weniger, aber dafür immer grössere Betriebe, die Massen für die Masse umsetzen, geht nämlich mit dem stummen Verschwinden des lokalen Gewerbes einher. Und so geht es für Erwin nicht nur um die unmittelbare Existenzsicherung, sondern auch um sein Selbstverständnis und sein Vermächtnis. Der ohnehin nicht redselige Erwin gerät ins Grübeln. Gedanken und Bilder verfolgen ihn bis in die Träume.

Die Bilder, die Martin Oesch wählt, sind detailversessen und auch atmosphärisch dicht. Bei aller Ernsthaftigkeit der Materie blitzt in den Zeichnungen und Dialogen ein raffinierter Schalk auf. Zuweilen wirken sie geradezu heiter, was der Ambivalenz, die Erwin in sich spürt, bestens gerecht wird. Darüber hinaus zeigt Martin Oesch ein feines Gespür für das Seitenlayout: Hier schaut ein Teil einer Figur aus dem Panel heraus, da eine Sprechblase, dort wird die Rahmung gleich ganz weggelassen. Darin kann man eine Analogie zur Geschichte des Protagonisten erkennen, der seinerseits seinen beengten Lebensrahmen verlassen wird.

«Blut an meinen Händen» verspricht eine tiefsinnige und differenzierte Auseinandersetzung mit der Produktion von Fleisch und Nahrung zu werden. Eine Auseinandersetzung auch mit ihren Implikationen auf Tier, Natur und Mensch. Daher sind wir sehr gespannt auf das Resultat des weiteren Schaffensprozesses.

Zum Schluss noch dies: Alles hat ein Ende – und diese Laudatio zwei. Zum einen sei sie lobender Ausdruck der Anerkennung für die bisherigen Arbeiten, zum anderen ein Appell, der so schlicht ist wie imperativ: Weiterschreiben!

Laudatio für Eva Rust, Weiterschreiben 2023

Kennen Sie Hilda? Diese wilde und wunderbare Hexe ohne Besen, die mit einem Widder mitten in einem Zauberwald wohnt, nur das isst, worauf sie Lust hat, und ihren Wald gegen alle Eindringlinge verteidigt? Die Illustratorin und Autorin Eva Rust hat sie erfunden und mit ihr die Herzen von Kindern und Erwachsenen gleichermassen erobert.

Eva Rust hat Visuelle Kommunikation mit dem Schwerpunkt Illustration Nonfiction an der Hochschule Luzern studiert und seither eine eigene, starke künstlerische Stimme entwickelt. Ihre beiden Bilderbücher «Hilda und die Prinzessin» und «Hilda, Melusina und das Drachenei» sind frische, moderne Märchen, die mit starren und verstaubten Rollenbildern und Märchenklischees aufräumen. Es ist bemerkenswert, wie es Eva Rust gelingt, nicht allein Stereotype zu vermeiden, sondern auch echte Vielfalt zu schaffen. Denn nebst der furchtlosen Hilda begegnen wir als Lesende auch der ruhigen Prinzessin Melusina, die süsse Liebeslieder mag, gerne liest und ihren Garten pflegt.

Es wäre ein Leichtes anzunehmen, dass Feminismus gleichbedeutend mit Wildheit und Lautstärke ist und damit in die Falle zu tappen. Denn Eva Rusts Werke erinnern uns daran, dass Stärke in vielen Formen auftreten kann. Beide Figuren gehen ihren eigenen Weg, jede auf ihre Weise, und beide Bücher machen deutlich, dass es keine Einheitsgrösse für Selbstbestimmung und Unabhängigkeit gibt.

In «Hilda, Melusina und das Drachenei», von der Autorin selbst als «ökologisches Märchen» bezeichnet, gelingt es Eva Rust überdies, den Themenkomplex Umweltschutz auf höchst unterhaltsame Weise zu verhandeln, ohne dabei die Moralkeule zu schwingen oder die Problematik zu verharmlosen. Aus dem geheimnisvollen Drachenei, das Hilda und Melusina im Garten finden, schlüpft nämlich ein feuerspuckendes Drachenmädchen, das genüsslich Benzin trinkt und am liebsten dicke SUVs frisst. «Glücklicherweise hatte es in letzter Zeit so viele Autos. Da kam es auf ein paar mehr oder weniger nicht drauf an.»

2023 realisierte Eva Rust gemeinsam mit der Illustratorin und Filmemacherin Lena von Döhren den Kurzfilm «Tümpel», den die beiden auch als Comic umgesetzt und publiziert haben. Ein kleiner Hering rettet sich darin ganz knapp vor einer Möwe in einen Gezeitentümpel und verliert so den Anschluss an seinen Schwarm. Er ist verängstigt, schliesst dann aber schnell Freundschaft und es gelingt ihm schliesslich, die Möwe erneut abzuwehren und seinen Schwarm zu finden. Auch dieses Projekt zeigt deutlich, wie gut es die Künstlerin versteht, unterschiedlichste Themen in eine zugängliche und stimmige Form zu bringen.

Eva Rusts Bücher sind ein wichtiger Beitrag für eine lebendige und vielfältige Kinderliteratur und wir wünschen uns mehr davon – für unsere Kinder, aber ganz ehrlich: auch für uns selbst!

Sehr herzliche Gratulation zum Weiterschreiben Stipendium der Stadt Bern!

Laudatio für Anna Schmid, Weiterschreiben 2023

Mit einem Weiterschreiben-Stipendium zeichnet die Literaturkommission der Stadt Bern Anna Schmid für ihre Arbeit auf dem Feld der grafischen Literatur aus. Nicht zuletzt in der Hoffnung, dieses Stipendium möge ihr etwas Luft verschaffen, um weiter an ihrem Projekt mit dem Titel «Es ist nichts» zu schreiben und zu zeichnen.

«Da ist leider nichts», sagt die Gynäkologin bei der Untersuchung der sich in anderen Umständen wähnenden Frau. Und die Medizinerin führt aus: «Das, was Sie da haben, nennt man eine Fehlgeburt.»

Schon auf den ersten Seiten von Anna Schmids Projektskizze sind wir Lesende mittendrin. Die Autorin stellt eine so klare wie starke Ausgangssituation her, die überdies von einer gewissen Schwere ist. Eine Ausgangssituation, die Fragen aufwirft, und damit Geschichte und Geschichten ins Rollen bringt: Was macht dieses Erlebnis mit der Protagonistin? Was mit ihrem Selbstverständnis und Körpererleben? Welche Auswirkungen hat es auf ihre Partnerschaft? Wie verändert dieses Erlebnis ferner das Mutter-Tochter-Verhältnis? Zumal die Mutter der Protagonistin anvertraut: «Mir ist das ja auch passiert genau vor 32 Jahren.» Und welche Nachwehen sind für allfällige Nachgeborene zu spüren?

«Lily hatte ja eine Fehlgeburt», heisst es da im Text, «wir haben dieses Buch gekauft über Schwangerschaft. […]. Aber es stand kein Wort darin zu diesem Thema. Als gäbe es das gar nicht.» Was hier über Fachliteratur gesagt wird, dürfte zu grossen Teilen auch für die Belletristik gelten. Auch hier scheint die Thematik Fehl-, Früh- oder Todgeburt geradezu tabuisiert. Zum Glück setzt Anna Schmid mit ihrer Arbeit «Es ist nichts» dem etwas entgegen. Sie gedenkt dieses Tabu zu brechen und Sichtbarkeit zu schaffen, Dringlichkeit ist entsprechend spürbar.

Und zum Glück tut Anna Schmid dies in der Art, wie sie es tut: Feinfühlig. Tastend. Und doch klar. In einer einfachen, aber nicht simplen Sprache. Mit einem skizzenhaften Strich. Eher mit zeichnerischen Andeutungen arbeitend denn mit Ausformulierungen, dies jedoch mit hoher Genauigkeit. Mit weichen Linien, weichen Rändern, auch zwischen den Panels, zuweilen schon fast fliessende Übergänge. Als Lesende erleben wir eine Welt in schwarz-weiss-grau und somit eine eher düstere. Gleichsam eine Spiegelung der in dieser Arbeit verhandelten Sachverhalte und Befindlichkeiten. Dabei erscheint gerade auch die Bildsprache als Ergebnis einer künstlerischen Suche und also als eine bewusst gewählte. Dies zeigt sich auch im Vergleich mit anderen Arbeiten von Anna Schmid. Was jedoch nicht heisst, dass nicht auch in «Es ist nichts» Charakteristiken zu erkennen sind.

Bereits in ihren bisherigen Publikationen hat sich Anna Schmid stark mit Aspekten von Weiblichkeit beschäftigt. Dass sie sich nun der besagten Thematik annimmt, folgt also einer gewissen Logik. «Es ist nichts» reiht sich ein und sticht gleichwohl heraus – eine Werkprobe, die nachhallt.

Wir gratulieren Anna Schmid von Herzen zum Weiterschreiben-Stipendium 2023.

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