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Die Familie im Fokus – Massnahmen für eine familienfreundliche Stadt

Ein Gespräch zwischen Alex Haller, Leiter Familie & Quartier Stadt Bern, und Ursula Rettinghaus, Fachspezialistin Jugend und Familie, über geplante Massnahmen, die die Situation von Familien in Bern (weiter) verbessern sollen.

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Ursula Rettinghaus: Eine meiner bisher grösseren Aufgaben war die Konzipierung dieses Massnahmenpapiers, mit dem Ziel, Familien in Bern in ihrem Alltag besser zu unterstützen. Wie sich zeigte, wird hierzu bereits sehr viel getan. Weshalb also neue Massnahmen?

Alex Haller: 2008 erschien ein umfassender Familienbericht, der die Situation von Familien analysierte und konkrete Verbesserungen vorschlug. Familie & Quartier Stadt Bern (vormals Jugendamt) war damals zuständig für Kinder, Jugendliche, auch für Quartierarbeit, aber nicht direkt für Familien. Für die Umsetzung der Vorschläge des Familienberichts waren die Zuständigkeiten unklar.

UR: Wir bewerten heute einige der damaligen Vorschläge anders. Ein zentraler Punkt aber im Bericht von 2008 war ein verbesserter Zugang zu Informationen rund ums Thema Familie, analog, aber auch online. Dieser Punkt steht auch in unserem Papier ganz oben, da es für viele immer noch eine Herausforderung ist, rasch Antworten oder Dienstleistungen zu finden, gerade wenn es um komplexere Themen geht.

AH: Genau. Alle, die Informationen bereitstellen, machen ihre Sache gut. Das Problem ist die fehlende Vernetzung: Ich finde sehr viel auf bern.ch, aber es gibt keine gebündelte Seite zu Familienfragen und keine einheitliche Logik. Das Problem wurde auch in der umfangreichen Studie zu Familienarmut beschrieben, die letztes Jahr erschien. Es geht um ganz grundlegende Fragen: Wie können wir uns organisieren? Wo finden wir günstige Angebote, wer hilft uns bei der Kinderbetreuung, welche Bildungsangebote gibt es? Es fehlt eine klare Struktur, die von familiären Bedürfnissen ausgeht. Wichtig ist mir, dass ein Online-Portal für Familien nicht einfach nur Infos liefert, sondern dass man nach dem Besuch des Portals ein Problem weniger hat, dass ich also z.B. direkt ein Gesuch stellen kann oder eine genaue Antwort zu meiner spezifischen Situation bekomme – mehr Dienstleistung statt reine Information.
Nicht "was bieten wir an?", sondern "was möchten Familien von uns?" ist die entscheidende Frage. Wenn ich Infos möchte zu Familienzulagen, muss ich sofort sehen können, ob ich anspruchsberechtigt bin – und finde dann idealerweise den Link zu den Betreuungsgutscheinen. Meiner Ansicht nach sind wir bisher zu wenig von den Bedürfnissen der Familien oder von Lebensgemeinschaften mit familiären Strukturen ausgegangen.

UR: Familie ist ja ein ziemlich vielfältiges, uneinheitliches Gebilde, was aus Verwaltungssicht eine Herausforderung ist. Wir sind nur für einen Teil der familiären Themen zuständig. Schule, Alter, Migration, Spielplätze, Sport etc. gehören nicht in unser Aufgabengebiet. Umso wichtiger, dass wir am gleichen Strick ziehen. Wenn Eltern also ein Anmeldeformular für die passende Kinderbetreuung suchen oder aber einen Pflegeplatz für den Schwiegervater, wenn sie Fragen haben zu finanzieller Unterstützung und zum Schulübertritt, sollten sie rasch über das Familienportal ans Ziel gelangen. Hier wurde bisher zu wenig zusammengearbeitet.

AH: Ja. Wir behaupten nicht, dass z.B. die Pflege älterer Angehöriger eine Familienangelegenheit im engeren Sinne ist, aber für Familien ist das Thema je nach Situation relevant und muss daher im Familienportal auffindbar sein. Hier kann dann triagiert werden auf altersspezifische, fachlich gut aufbereitete Seiten…

UR: …wo man dann Interessantes findet, nach dem man vielleicht noch gar nicht gesucht hatte. Deshalb soll das Portal auch in Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen und dem Informationsdienst entstehen.

AH: Der Schritt, den wir gemeinsam gehen müssen, ist, nicht nur für gute Lektüre zu sorgen, sondern mitzuhelfen, ein Problem hier und jetzt zu lösen. Wir müssen weiterdenken: Wer Familienzulagen beantragen möchte, ist vielleicht auch interessiert an Krankenkassenvergünstigung. Also gehören auch gewisse kantonale Leistungen ins Familienportal.

UR: Genau, Familienbelange enden nicht an den Stadtgrenzen, sondern verlangen eine möglichst umfassende, strukturierte Plattform. Auch der analoge Zugang zu Information kann noch verbessert werden, das ist aber nicht Teil unseres Massnahmenpapiers, da er bereits auf der Grundlage des Armutsberichts organisiert wird.
In der Konzipierungsphase haben wir uns auch mit der Definition von Familie auseinandergesetzt, der Begriff ist nämlich gar nicht so leicht zu fassen. Es gibt zahlreiche Definitionen, mal enger, mal weiter, es gibt viele verschiedene Familienformen: Ein-, Zwei-, Mehr-Eltern-Familien, Patchwork-, Regenbogenfamilien, Familien mit besonderen Bedürfnissen, Erwachsene mit pflegebedürftigen Eltern... Meistens wird Familie aber immer noch dargestellt als MannFrauZweiKinder, alle weiss, alle glücklich, Mutter und Tochter langhaarig und hübsch, Vater und Sohn sportlich. Wir möchten ein deutliches Votum aus dem vorbereitenden Workshop umsetzen, nach dem auch in unseren Publikationen, online wie analog, die Vielfalt von Familien abgebildet werden soll.

AH: Eine Familie ist man dann, wenn man sich selber als Familie sieht. Darum mag es Lebensformen geben, die wir als Familie bezeichnen würden, die sich aber selber nicht so nennen. Wichtig ist, dass wir alle einladen: Ihr seid als Familie bei uns willkommen, weil ihr eine Lebensgemeinschaft darstellt, in der man sich gegenseitig stützt. Die Darstellung der Vielfalt ist gleichzeitig auch eine Einladung, sich als Familie zu verstehen und entsprechende Forderungen zu stellen, selbst wenn man nicht dem klassischen Familienbild entspricht.

UR: Die Förderung der "Frühen Kindheit" ist ein aktuelles Thema, das ebenfalls ins Massnahmenpapier aufgenommen wurde. Die UNESCO hat diesen Februar einen umfassenden Bericht herausgebracht, der die entscheidenden ersten Lebensjahre ins Zentrum rückt und die Bedeutung der frühen Förderung für die Chancengerechtigkeit und höhere Lebensqualität hervorhebt. Es gab kritische Reaktionen, die dem Bericht Bildungsdünkel vorwarfen oder vom Raub der Kindheit sprachen. Es geht hier aber keineswegs um Frühchinesisch oder um Elitebildung, sondern um die Angleichung der Startbedingungen, die das gesamte spätere Leben prägen. Bern ist hier mit der hohen Qualität der Kitas und anderer Institutionen der frühen Förderung (z. B. primano) schon auf sehr gutem Weg, es gibt aber noch Luft nach oben, bspw. in der Überprüfung des künftigen Platzbedarfs in Kitas, aber auch in finanzieller Hinsicht. Die jüngst vom Stadtrat beschlossene Vergünstigung der Verpflegungskosten in der Tagesbetreuung von Kindern war ein weiterer Schritt, nun möchten wir eine Diskussion lancieren zur Senkung oder vielleicht sogar zur Aufhebung der Betreuungskosten oder neuen Finanzierungsformen.

AH: Es ist wichtig, sich diese Gedanken zu erlauben und von einem Extrem auszugehen. Die Kita ist heute eine Vorverlagerung dessen, was früher der Kindergarten bot – der nämlich auch ein freiwilliges Bildungsangebot war, das aber nichts kostete. Daher ist die Frage nach kostenlosen Kitas heute durchaus berechtigt. Kurzfristig wird dies kein ernsthaftes Ziel sein, aber es ist ein Diskussionsansatz, der aufgenommen werden muss. Vielleicht nicht so sehr, um die Entlastung der Eltern, sondern vor allem um die Chancengerechtigkeit für die Kinder zu thematisieren. Armut z. B. wird über den schwierigeren Zugang zu Bildung und anderen gesellschaftlichen Leistungen immer noch vererbt – ebenso wie Reichtum. Zu Bildung gehört hier unbedingt auch soziales Lernen wie Verhalten in einer Gruppe, Austausch von Interessen, das Eingehen aufs Gegenüber, die Fähigkeit, Kompromisse zu schliessen und Empathie zu zeigen … Eine entscheidende Voraussetzung für Bildungserfolg ist die Fähigkeit, Mitgefühl entwickeln zu können und sich selbst zu kennen: Wo ist mir wohl, wo kriege ich viel mit, wie kann ich meine Bedürfnisse angstfrei entfalten? Dies hat wenig mit klassischen Bildungsinhalten zu tun, sondern ist die Voraussetzung, um eigene Fähigkeiten zu entwickeln. Keine Zahlenspielchen, sondern das Vertrauen in sich und in die Umwelt, dass man sich etwas aneignen kann: Das sind für mich die wesentlichen frühkindlichen Bildungsaspekte.

UR: Diese werden immer wichtiger, insbesondere die von dir genannte Fähigkeit zur Empathie. Neben den Betreuungskosten haben wir auch die von Eltern gelegentlich gewünschten längeren Kita-Öffnungszeiten und einen flexibleren Umgang mit den vereinbarten Betreuungszeiten diskutiert. Hier entschieden wir uns aber vorerst gegen weitere Massnahmen. Bern verfügt bereits über ein kleines Angebot mit erweiterten oder flexibleren Öffnungszeiten, die Belegungszahlen und ein abgebrochener Pilot-Versuch der Insel-Kita zeigen aber eine zurzeit verhältnismässig geringe Nachfrage.

AH: Mit unserer Familienpolitik nehmen wir die Eltern als Akteure ernst: Vor allem Menschen aus prekären wirtschaftlichen Verhältnissen stehen unter dem Druck einer immer liberaleren Arbeitswelt. Dass man abends um sechs Uhr zu Hause ist oder morgens erst um acht Uhr am Arbeitsplatz, ist nicht mehr selbstverständlich. Eltern wissen aber auch, dass ihre Kinder einen Tagesrhythmus brauchen, der deren Bedürfnissen und nicht zuletzt auch den erwähnten Bildungszielen entspricht: Ein Kind muss ausgeschlafen sein und satt, mit sich im Reinen, bevor es den Ort wechselt und andere Beziehungen eingehen kann. Überlange Betreuungszeiten führen zu Stress, und das Kind muss abends ins Bett gehen können, wenn es müde ist. Eine völlige Liberalisierung der Betreuungszeiten ist einerseits nicht im Interesse der Kinder, andererseits sollen Eltern in der Lage sein, ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern – in dieser Diskrepanz befinden wir uns. Ich betone aber, dass Eltern die richtigen Entscheidungen treffen; wir dürfen ihnen vertrauen, dass sie, soweit möglich, die Interessen ihres Kindes stark gewichten. Vermutlich liegt hier der Grund für die geringe Auslastung verlängerter Betreuungszeiten.
Bei der heutigen Arbeitsmarktentwicklung werden längere Kita-Öffnungszeiten in Zukunft vielleicht nötiger. Dann werden wir dabei helfen, entsprechende Orte zu schaffen, an denen sich die Kinder wohlfühlen, selbst wenn der Kita-Tag mal ein bisschen länger dauern sollte.

UR: Das Thema Kinderbetreuung ist auch eng verknüpft mit Geschlechtergerechtigkeit. Auf wichtige Themen wie Vater- und Mutterschaftsurlaub, Elternzeit, Zulagen etc. haben wir als städtische Verwaltung leider keinen Einfluss. In der Schweiz ist aber, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, in diversen Bereichen Teilzeitarbeit möglich oder sogar üblich. Nichtsdestotrotz ist es auch hier noch so, dass mehrheitlich die Väter nach der Geburt ihres Kindes weiterhin Vollzeit arbeiten, die Mütter aber ihr Pensum verkleinern. Diese Retraditionalisierung junger Familien ist umso erstaunlicher, als die meisten Paare vor der Familiengründung angeben, Erwerbs- und Familienarbeit nach der Geburt gleichberechtigt teilen zu wollen.

AH: Das kollidiert eben oft mit der wirtschaftlichen Realität. Die Mutter hat durch Schwangerschaft und Mutterschaftsurlaub schon einen Erwerbsunterbruch, während der Vater seinen Job weiter ausführt, zudem sind die Löhne – immer noch – häufig ungleich, Löhne von Frauen sind im schweizweiten Durchschnitt 17 bis 20 Prozent tiefer als die Löhne der Männer. Nach der Rückkehr an den Arbeitsplatz arbeiten daher viele Frauen in einem tieferen Pensum weiter, die Männer behalten, häufig aus Eigenantrieb, ihr hohes Pensum bei und das Ungleichgewicht bleibt bestehen. Allerdings haben viele Väter heute das Bedürfnis, ihren Anteil an der Familienarbeit in tatsächlicher Gleichberechtigung zu leisten. Eltern sollen die Vorstellungen, die sie vor der Familiengründung hatten, nicht aufgeben müssen. Das verlangt nach einem Bild von Vaterschaft, dass öffentlich thematisiert und gepflegt wird, eben nicht nur als Quality time, indem man zwei Stunden pro Woche mit dem Kind spielt, sondern Windeln wechselt, wäscht, einkauft, füttert, auf den Spielplatz, zur Ärztin, zum Elternabend geht – dass diese Familienarbeit eben wirklich von beiden Geschlechtern zu gleichen Teilen geleistet werden kann.

UR: Eine geplante Massnahme in unserem Papier soll daher die Väter in ihren Anliegen unterstützen, möglicherweise in Form eines Projektbeitrags: Das Thema ist gerade sehr en vogue, es gibt bereits einige Väterinitiativen, die eine Ergänzung zu den bestehenden Mütterzentren sein könnten und gleichberechtigteres Familienleben fördern wollen.

AH: Ich denke, dass Väter auch andere Themen haben, schon allein wegen ihres Rollenbildes. Wenn sie Foren gründen zum gegenseitigen Austausch, je nach dem auch mit Beratung durch Fachleute, wollen wir sie darin unterstützen.

UR: Väterzentren leisten auch einen wichtigen Beitrag für die Chancengerechtigkeit der Kinder, die davon profitieren, wenn auch die Väter mit ihren Themen wie bspw. Gesundheit, Schulübertritt, Kita, Pubertät vertraut sind.

AH: Viele Beratungsangebote werden aber nur während der Bürozeiten angeboten. Es braucht hier auch Abend-Öffnungszeiten oder, z. B. an Elternabenden, auch explizite Einladungen an die Väter.

UR: Es geht aber auch darum, dass Väter, wie oben schon erwähnt, bereit sind, ihre Erwerbspensen zu senken und sich im gleichen Mass wie die Mütter auf familiäre Aufgaben einzulassen.

AH: Das denke ich auch. Es ist Aufgabe der Männer, sich auf Themen einzulassen, die sie in ihrer Tradition bisher nicht pflegten und die sie von ihren Vorbildern auch kaum kennen. Es ist aber auch eine anspruchsvolle Aufgabe der Mütter, zuzugestehen, dass traditionell Bewährtes auch anders angegangen, anders gelöst werden kann. Wichtig ist die Anerkennung der Unterschiede…

UR: …aber auch die Anerkennung der Individualität, jenseits der zugeschriebenen Geschlechterrollen. Ziel ist ja, die Voraussetzungen zu schaffen, dass Familien ihr Zusammenleben nach ihren individuellen Vorstellungen und Möglichkeiten gestalten können. Mit der Unterstützung von Vätertreffs oder -Stammtischen wollen wir auch nicht isoliert die Anliegen von Vätern bedienen, sondern die Anliegen von Familien.
A propos Familie: Ein weiterer Punkt in unserem Papier ist ein Willkommensgruss an Neugeborene.

AH: Wir wollen neben diesen verschiedenen Massnahmen zur tatsächlichen Verbesserung des Familienlebens auch ein Signal senden: Wir als Lebensgemeinschaft Stadt sind bereit für alle Familien, wir freuen uns über jedes Kind, das geboren wird, und über unsere stetige Erneuerung. Das möchten wir symbolisch zum Ausdruck bringen, indem wir die Kinder und Familien freundlicher willkommen heissen, mit einem Geschenk und einer Grusskarte des Gemeinderats: Wir sind für Euch da. Das ist ein wichtiges Zeichen. So wie z. B. Gemeinderäte persönlich zum hundertsten Geburtstag vorbeikommen. Da gibt es übrigens auch eine schöne Geschichte von der Grossmutter von Büne Huber….

Unsere geplanten Massnahmen in Stichworten:

  • Einrichtung eines Online-Portals für Familienfragen
  • Bildkonzept zur Sichtbarkeit der Diversität von Familien
  • Frühe Kindheit: Mitgestaltung des Rahmenprogramms zur Ausstellung "Die Entdeckung der Welt"
  • Kinderbetreuung: Lancierung einer Diskussion zur Kostensenkung und Untersuchung zu zusätzlichen Betreuungsplätzen und Randzeiten.
  • Förderung der Geschlechtergleichstellung in der Familienarbeit
  • Willkommensgruss
  • Elternbildung

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